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Die anderen wollen es immer besser wissen

Aktualisiert: 21. Dez. 2024




Ich gebe es zu: Ich bin ein Klugscheißer! Gerne lasse ich mich verleiten und erkläre den Menschen in meinem Umfeld, was sie machen sollen oder besser machen könnten. „Geh zum Selbstverteidigungstraining“, „Jeder soll meditieren, mir hilft das auch“, „Mach X, Y und Z“, „Geh arbeiten…“. Ja, ich sehe mich als Experten für mein Leben und schließe daraus, dass ich auch Experte für andere Leben wäre. Nur irre ich mich häufig gewaltig! Vielleicht gehen Menschen lieber klettern oder wandern, beten zu einem der Götter oder machen schlichte Atemübungen, anstatt zu meditieren, oder sie machen lieber A, B oder C. Nur weil ich einen guten Weg für mich gefunden habe, muss er nicht für andere gut sein.


Was ich (Möchtegernexperte) bei anderen Personen mache, tun andere wiederum gerne bei mir. Gut gemeinte Ratschläge, Verbesserungsvorschläge oder Empfehlungen prasseln immer wieder in meine Richtung, und ich weiß oft nicht so recht, wo mir der Kopf steht. Seit ich mich entschlossen habe, ein nüchternes Leben zu führen – was an sich schon eine Herausforderung ist – lerne ich mich darüber hinaus auch neu kennen. Der Alkohol und die damit verbundenen Aktivitäten fallen weg, was also mache ich mit meiner Zeit? Bewegung bringt mich meinem Körper näher, Meditation meinem Geist, und das Ausprobieren von Aktivitäten und das Nachgehen von (vermeintlichen) Interessen meinem Charakter. Daher bin ich sehr empfänglich für neue Ideen oder Experimente. Anfangs bin ich diesen äußeren Einflüssen auch immer wieder nachgegangen und habe mich auf Irrwege begeben. Ich kannte mich schlicht noch nicht gut genug, um mich vor diesen zu schützen.


Nüchtern zu werden ist für Alkoholkranke hart. Verdammt hart. Nüchtern zu bleiben ist die noch größere Aufgabe, und jeder, dem dies gelingt, hat einen Orden verdient. Der Alkohol war für viele von uns eine Art Abkürzung zum Glück. Wir wollten uns nicht mit uns selbst beschäftigen, sondern schummelten lieber mit einem Glas Zellgift, um den gewünschten Effekt herbeizuführen. Was mit Sport, Berufung, Interessen und Leistung auch gelingt, soll lieber die Substanz erledigen. Ich machte beim Nüchternwerden immer wieder den Fehler, zu schnell mein Leben mit Inhalt zu füllen. Die neu gewonnene Energie nach einem Entzug hat mich dazu verleitet. Doch Alkoholismus ist eine ernste Krankheit, und die Genesung erfordert Zeit und Geduld. Genauso wie ich mir als nasser Alkoholiker mein Glück durch den Blick ins Glas erschummeln wollte, möchte ich dann häufig als trockener Alkoholiker genauso schnell mein Glück durch das Erzwingen von Realitäten herbeiführen.


Letztlich wusste ich als aktiver Trinker, dass ich ein Problem mit dem Alkohol habe, und wollte es nicht wahrhaben. Genauso wollte ich nach einem Entzug nicht wahrhaben, dass ich immer noch krank bin, und habe mich dann immer wieder durch unzählige Aktivitäten und verfrühte Lebensplanungen selbst sabotiert und meinen Heilungsprozess behindert. Ich wollte so der Realität entfliehen. Im Grunde wusste ich immer, was ich mir zumuten kann und was nicht, und wollte es nicht wahrhaben. Ob es dabei um Arbeit, neue Freundeskreise, Sport, die Liebe oder einfach nur die Freizeitgestaltung geht, ist zweitrangig. Daher bin ich mittlerweile davon überzeugt, dass ich mir die Zeit nehmen muss, die ich brauche. Auch wenn das soziale Umfeld anderer Meinung ist. Natürlich sollte diese Erholungs- und Findungsphase nicht ewig dauern. Der Heilungsprozess kostet uns – je nach Stadium – Wochen oder Monate (und manchmal auch länger). Ein Rückfall kann uns Jahre kosten oder das Leben nehmen.


 

Dieser Blog dient als Anregung und Inspiration für Menschen, die ein Alkoholproblem haben und informiert allgemein - auf Basis von wissenschaftlichen Erkenntnissen und persönlicher Erfahrung - über die Krankheit. Er ist kein substitut für professionelle therapeutische oder medizinische Hilfe. Wenn Du ein akutes Problem hast oder professionelle Hilfe benötigst, dann wende Dich an einer der dafür vorgesehenen Stellen

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