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Die Ehrlichkeit als höchstes Gut im Alkoholismus

Aktualisiert: 13. Dez. 2024




Ich sitze in einem Lokal im 9. Wiener Gemeindebezirk. Am Tisch stehen leere Gläser und die meisten meiner Freundinnen und Freunde sind bereits gegangen. Die üblichen Verdächtigen sind übriggeblieben. Nach einem Blick auf meine Armbanduhr stelle ich fest, dass es bereits halb zwölf ist. „Verdammt", denke ich mir, „morgen muss ich wieder früh zur Arbeit. Nur noch ein Bier". Es blieb für gewöhnlich nicht bei einem.


So oder ähnlich sahen viele Abende in meinem Leben aus. Genauso häufig habe ich mir geschworen, nur noch an diesem einen Tag der Woche zu trinken, oder nur noch heute, an Samstagen oder bei Vollmond und morgen nicht. Um ein paar Optionen der schier endlosen Liste zu nennen. Die Frequenz der Ausreden häufte sich im Laufe der Zeit und hörte auch nicht bei den Alkoholtagen oder der Menge auf. Mein Selbstbetrug begann, eine Charaktereigenschaft zu werden, und ich nahm die Ausreden nicht mehr als solche wahr. Vielmehr empfand ich es als selbstverständlich, meine Tage verkatert oder restalkoholisiert zu starten. In manchen Phasen ignorierte ich aber den Wecker oder fand mich in fremden Betten wieder. Durch meine hohe Toleranzentwicklung hatte ich subjektiv den Eindruck, viel vertragen zu können. Ich machte phasenweise einen Sport daraus, nach dem Trinken wenig zu schlafen und anschließend zur Arbeit zu gehen. Ich redete mir ein, kein Alkoholiker zu sein, weil ich pünktlich bei der Arbeit erschien und niemandem mein Zustand auffiel. In noch finstereren Zeiten erschien ich erst gar nicht. Doch der Tag, an dem Körper und Geist nachgeben, kommt unweigerlich. Für gewöhnlich versagt der/die Alkoholkranke beruflich oder privat und beginnt erst, etwas gegen die Krankheit zu tun, wenn es schon zu spät ist. Häufig genannt werden der Entzug des Führerscheins, die Intervention der Familie oder der Verlust des Arbeitsplatzes. In meinem Fall war es eine Mischung.


Um als Alkoholiker ein trockenes und erfülltes Leben zu führen, gibt es also keine Alternative, als mit sich selbst gnadenlos ehrlich zu sein. Das beginnt bei der Einsicht, diese unheilbare Krankheit zu haben, und hört an keinem Tag des Lebens auf. Die Prüfungen, die mir das Leben sowie ich mir selbst stellen, sind unumgänglich. Alte Freunde treffen, vielleicht doch ein Bier gönnen? Bei der spontanen Verabredung mit der Dame aus der Nachbarschaft ausnahmsweise ein Glas Wein zur Auflockerung trinken? Der Tag war grauenhaft und nichts hat wirklich funktioniert. Jetzt doch schnell zum Wundermittel Alkohol greifen? Einen Erfolg feiern und ausnahmsweise doch zur Flasche greifen? Ich habe nach einigen Monaten Trockenheit mein Leben wieder im Griff. Jetzt darf ich doch wieder trinken! Nein. Die Liste kann ich endlos fortführen. Und nur wenn ich weiß, dass mich dieses eine (es werden ja für gewöhnlich doch viele) Glas wieder in die immer gleiche Abwärtsspirale der Sucht führen wird und ich mir das eingestehen kann, bin ich in der Lage, etwas an meinem Leben zu ändern. Die Einsicht sowie die Ehrlichkeit zu sich selbst sind vermutlich der schwierigste und (anfangs) schmerzhafteste Schritt in Richtung Nüchternheit, doch es lohnt sich.


 

Dieser Blog dient als Anregung und Inspiration für Menschen, die ein Alkoholproblem haben und informiert allgemein - auf Basis von wissenschaftlichen Erkenntnissen und persönlicher Erfahrung - über die Krankheit. Er ist kein substitut für professionelle therapeutische oder medizinische Hilfe. Wenn Du ein akutes Problem hast oder professionelle Hilfe benötigst, dann wende Dich an einer der dafür vorgesehenen Stellen.

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